Erziehung zum Krieg

Heimat-Jahrbuch Osnabrücker Land 2014, S. 44-52:

Erziehung zum Krieg –

pädagogische Leitbilder vor dem Ersten Weltkrieg.

Eine Spurensuche in Hagener Schulchroniken

Johannes Brand

„Durchglüht von heiliger Flamme der Vaterlandsliebe, eilten die Kämpfer von ihrer Arbeitsstätte, von der Scholle mit der zum Teil noch ungeborgenen Ernte, aus den Fabriken, den Hörsälen, den Kontoren zu ihren Truppenteilen“, so schildert eine zeitgenössische Darstellung die Mobilmachung in Deutschland im August 1914.[1] Auch heute noch ist vielfach in Geschichtsbüchern von einer Kriegsbegeisterung der deutschen Bevölkerung beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Rede, wenn auch die wissenschaftliche Geschichtsschreibung das inzwischen differenzierter sieht.[2] Alois Hippe aus Hagen berichtet jedenfalls in seinem Kriegstagebuch, dass der Ausbruch des Krieges „unbeschreibliche Begeisterung überall“ auslöste[3]. Aber in den Schulchroniken ist nur einmal von dieser Begeisterung der jungen Männer die Rede: „Voll Begeisterung zogen die Vaterlandsverteidiger hinaus, um sich als tapfere Deutsche zu beweisen.“ (Sudenfeld 1915/16).[4] Es stellt sich aber die Frage, wodurch diese jungen Männer so geprägt worden sind, dass sie sich in Scharen freiwillig zum Soldatendienst meldeten, hier konkret, welchen Beitrag die Schule dazu leistete.                                                                                                                              

Erziehungsziele im Kaiserreich

Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 wurde es in Preußen wieder als ausreichend angesehen, wenn die Masse der Kinder in den Volksschulen nur im „Wesentlichen“, den Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet würden, hinzu kam die Einübung in das religiöse Leben. Leitbild war der (evangelisch-)christliche und preußisch-vaterländische Staatsbürger. Entsprechend umfasste der Stundenplan der Volksschulen auch nur diese vier Fächer.

Einen gewissen Fortschritt brachte die „Allgemeine Verfügung über Einrichtung, Aufgabe und Ziel der preußischen Volksschule“ von 1872[5], die auch fünf Wochenstunden für die sogenannten Realien in der Mittel- und Oberstufe der Volksschulen verbindlich machte. Im Fach Geschichte war damit auch die staatsbürgerliche Erziehung verpflichtend geworden. In der Folgezeit wurde wiederholt bemängelt, dass Lehrer an Volksschulen zu großen Wert auf die Frühgeschichte und das Mittelalter legen würden und die jüngere Geschichte dabei zu kurz käme.[6] Das Verständnis aber für die Leistungen des Großen Kurfürsten und der preußischen Könige sollte dabei die rechte vaterländische Gesinnung bewirken.

Nach den Siegen von 1864, 1866 und 1871 militarisierte sich unverkennbar und zunehmend die Gesellschaft in Deutschland, vor allem in Preußen. Sie verstand sich als gegliedert nach Obrigkeit und Untertanen auf der Basis von Befehlsgewalt einerseits und Unterordnung und Gehorsam andererseits. Leitbild war der Offizier, Reserveoffizier zu sein förderte die bürgerliche Karriere. Wie sehr die Anwesenheit eines Offiziers das Renommee einer Schule heben konnte, zeigt ein Bericht aus Natrup-Hagen:

„Die Schulfeier der 25. Wiederkehr des Sedantages [1895] gestaltete sich zu einem wahren Volksfeste auf dem Nollmanns Berge, besonders ermöglicht durch Freigebigkeit des königl. Topographen, Prem. Lieut. d. Res. Müller vom großen Generalstabe, der 4 Wochen die oberen Zimmer des Schulhauses bewohnte: Bierbude, Feldküche, Erbwurstsuppe, Bratwurst, Fahnenwache. 4 Moment-Photographien, 1. Singender Knabenchor, 2. Mädchenreigen, 3. u. 4. Gruppenbilder durch gen. Herrn, Freibier, Wettlauf, Werfen, Darstellungen aus Volksliedern und Gedichten, Feuerwerk, Lampignons, Festzug, Patriotische Lieder und Reden“ (Natrup, S. 31).    

Entsprechend dem militärischen Charakter der Gesellschaft wurden in Erziehung und Schule Tugenden wie „Demut, Bescheidenheit, Loyalität der Untertanen, Gehorsam und Akzeptanz der sozialen Unterschiede als gottgegeben vermittelt.“[7] Und der einflussreiche „Zentralausschuß zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in Deutschland“ forderte Anfang des 20. Jahrhunderts:

 „Jeder Lehrer, dem das Wohl seines Volkes, die Zukunft seines Vaterlandes am Herzen liegt, muß an seinem Teile mit allen Kräften dahin wirken, daß dem Staate ein opfermütiger, waffenstarker Nachwuchs für das Heer zur Verfügung steht.“[8]

Die folgenden Betrachtungen werden diesem Erziehungsbild am Beispiel dörflicher Volksschulen in der damaligen Samtgemeinde Hagen (am Teutoburger Wald) nachgehen.

Die Quellenlage

Nur wenige Quellen zum Schulalltag der Volksschulen sind uns erhalten. Gelegentlich erlauben uns die seit der erwähnten „Allgemeinen Verfügung“ von 1872 in § 10 vorgeschrieben Schulchroniken einen kurzen Einblick in das Unterrichtsgeschehen. In der Samtgemeinde Hagen gab es vor dem Ersten Weltkrieg vier katholische Volksschulen (Hagen, Gellenbeck, Sudenfeld, Mentrup) und eine evangelische Volksschule in Natrup-Hagen.[9] Aber nur zögerlich haben diese begonnen, Chroniken anzulegen.[10] Sehr unsystematisch war die Chronikführung: Von wenigen kurzen Stichwörtern bis zu seitenlangen Schilderungen der dörflichen Ereignisse reichen die Eintragungen.

Interessant für unser Thema sind die Notizen zu den sogenannten „patriotischen Gedenktagen“, wenn wir etwas erfahren zu Inhalten, Gedanken, Liedern und Gedichten. Vor allem die Schulleiter Hermann Wegmann in Hagen und Wilhelm Wolf in Gellenbeck[11] geben uns da interessante Einblicke. Insgesamt sind aber die für unser Thema relevanten Aussagen eher selten, sodass unsere Suche in den Schulchroniken eines Dorfes wie Hagen auf keinen Fall repräsentative Bedeutung für das Thema „Erziehungsleitbilder im wilhelminischen Deutschland“ beanspruchen kann.

Der Schulakt

Zu Zeiten Wilhelms II. gab es viele patriotische Gedenktage zu feiern. Jährlich wiederkehrende Feste waren der Sedantag (2. September) und Kaisers Geburtstag (27. Januar). Viele Jubiläen zur preußischen Geschichte, zu Königs- und Kaiserpersönlichkeiten, aber auch zu national bedeutsamen Dichtern kamen hinzu. An einem solchen Tag, auch wenn er unterrichtsfrei war, wie zumindest am Sedantag und an Kaisers Geburtstag, wurde in der Schule eine Feierstunde, „Schulactus“, „Schulaktus“ oder „Schulakt“ genannt, abgehalten. Oft begnügten sich die Chronikschreiber damit, dessen Ablauf schematisch wiederzugeben. Das früheste Beispiel: „In dem feierlichen Schulakt wechselten Vorträge des Lehrers, Deklamationen und patriotische Lieder mit einander ab. Den Schluß der Feier bildete ein begeistertes Hoch auf den geliebten Landesfürsten.“ (Sudenfeld 1889/90). Die Notizen zum Inhalt der Lehrervorträge, vor allem von Hermann Wegmann, einzelne Titel von Liedern und Gedichten geben uns wichtige Hinweise auf das Erziehungsbild der Schulen.

Der Untertan

Noch 1866 hatte der Hagener Pfarrer Johannes Oldiges in einer emotionalen Predigt den Untergang des Königreiches Hannover, zu dem Hagen schließlich nur gut 50 Jahre gehört hatte, beklagt: „Gestern wurde unser Vaterland begraben und mit ihm unsere teuersten Erinnerungen und unser angestammtes Fürstenhaus und die ruhmvolle Vergangenheit unserer Väter […].“[12] Offensichtlich aber war es ein leichtes, das Vaterland zu wechseln, denn im Jahre 1901 war Hermann Wegmann beim Jubiläum zum 200-jährigen Bestehen des Königreiches Preußen stolz auf das neue Vaterland: „So ist Preußen allmählich in seiner Entwicklung das geworden, was es jetzt ist, einer der ersten und vornehmsten Staaten unter allen gebildeten Staaten der Erde.“(Hagen, 1900/01). Schon ein Jahr zuvor hatte Wegmann zur Jahrhundertwende einen Rückblick auf die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert gehalten, die in dem Satz gipfelte: „So steht denn unser deutsches Volk am Ende des Jahrhunderts als das erste Volk Europas als ein gesittetes und gebildetes da, das berufen ist, in europäischen Angelegenheiten als Schiedsrichter ein gewichtiges Wort mitzusprechen.“ (Hagen, 1899/00).

Hermann Wegmann, um 1910 (Gemeindearchiv Hagen a. T. W.).

Volk und Vaterland werden hochgepriesen und auch scheinbar Kaiser und Volk auf eine Stufe gestellt, wenn es heißt: „Das Deutsche Reich wurde wieder aufgerichtet; und Fürst und Volk sind nun unablässig bemüht gewesen […].“ (Hagen 1899/1900). Dennoch ist für Wegmann die Rede vom Untertanen eine Selbstverständlichkeit. So

 „forderte [er] die Kinder auf, treu zu Fürst und Vaterland zu stehen in allen Lagen des Lebens, denn wenn so Fürst und Volk vereint (ein jeder Unterthan auf dem ihm von der Vorsehung zugewiesenen Platze) für das Vaterland arbeiten, so kann nur etwas Großes gedeihen.“ (Hagen 1900/01).

Das Verhältnis des einfachen Menschen zu seinem König bringt sehr schön das bei Schulfeiern zum Thema Preußen gern gesungene „Preußenlied“ (Hagen 1900/01) zum Ausdruck, das zeitweilig den Rang einer preußischen Nationalhymne hatte. Vor allem die zweite und fünfte Strophe bringen den Gedanken der familiären Ordnung im Staat zum Ausdruck. Das Verhältnis von Vater und Sohn war in der damaligen Gesellschaft klar bestimmt durch die Struktur von Obrigkeit und Untergebenen, von Gehorsam und Treue. Und dazu trug auch der Religionsunterricht wesentlich bei: Sowohl der Kleine Katechismus Martin Luthers als auch der im katholischen Religionsunterricht benutzte Schulkatechismus verstanden das vierte Gebot nicht auf die Familie beschränkt. Hier wurde den Kindern Gehorsam gegenüber Eltern, kirchlicher und staatlicher Obrigkeit und Vorgesetzten im Berufsleben in gleicher Weise eingeschärft.

 

Preußenlied von Bernhard Thiersch, 1830

  1. 1. Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?
    Die Fahne schwebt mir weiß und schwarz voran;
    daß für die Freiheit meine Väter starben,
    das deuten, merkt es, meine Farben an.
    Nie werd ich bang verzagen,
    wie jene will ich's wagen
    |: Sei's trüber Tag, sei's heitrer Sonnenschein,
       Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein. :|
  2. 2. Mit Lieb' und Treue nah' ich mich dem Throne,
    Von welchem mild zu mir ein Vater spricht;
    Und wie der Vater treu mit seinem Sohne,
    So steh' ich treu mit ihm und wanke nicht.
    Fest sind der Liebe Bande;
    Heil meinem Vaterlande!
    |: Des Königs Ruf dring in das Herz mir ein:
       Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein! :|
  3. 3. Nicht jeder Tag kann glühn im Sonnenlichte;
    Ein Wölkchen und ein Schauer kommt zur Zeit;
    Drum lese keiner mir es im Gesichte,
    Dass nicht der Wünsche jeder mir gedeiht.
    Wohl tauschten nah und ferne
    Mit mir gar viele gerne;
    |: Ihr Glück ist Trug und ihre Freiheit Schein:
       Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein! :|
  4. 4. Und wenn der böse Sturm mich wild umsauset,
    Die Nacht entbrennet in des Blitzes Glut;
    Hat's doch schon ärger in der Welt gebrauset,
    Und was nicht bebte, war der Preußen Mut.
    Mag Fels und Eiche splittern,
    Ich werde nicht erzittern;
    |: Es stürm' und krach', es blitze wild darein!
       Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein! :|
  5. 5. Wo Lieb' und Treu' sich so den König weihen,
    Wo Fürst und Volk sich reichen so die Hand,
    Da muss des Volkes wahres Glück gedeihen,
    Da blüht und wächst das schöne Vaterland.
    So schwören wir auf's Neue
    Dem König Lieb' und Treue!
    |: Fest sei der Bund! Ja schlaget mutig ein!
       Wir sind ja Preußen, lasst uns Preußen sein. :|
  6. 6. Und wir, die wir am Ost- und Nordseestrande,
    Als Wacht gestellt, gestählt von Wog' und Wind,
    Wir, die seit
    Düppel durch des Blutes Bande
    An Preußens Thron und Volk gekettet sind,
    Wir woll'n nicht rückwärts schauen,
    Nein, vorwärts mit Vertrauen!
    |: Wir rufen laut in alle Welt hinein:
       Auch wir sind Preußen, wollen Preußen sein! :|
  7. 7. Des Preußen Stern soll weithin hell erglänzen,
    Des Preußen Adler schweben wolkenan,
    Des Preußen Fahne frischer Lorbeer kränzen,
    Des Preußen Schwert zum Siege brechen Bahn.
    Und hoch auf Preußens Throne
    Im Glanz von Friedrichs Krone
    |: Beherrsche uns ein König stark und mild,
       Und jedes Preußen Brust sei ihm ein Schild! :|[13]

 

Das Leitbild Soldat

Betrachten wir noch einmal das „Preußenlied“: Da wird in der ersten Strophe an den Tod der „Väter“ im Befreiungskrieg erinnert und in der vierten Strophe der unerschütterliche Mut preußischer Soldaten beschworen. In der sechsten Strophe wird dann an den Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 erinnert mit dem Ruf zur Wachsamkeit und in der Schlussstrophe Preußens Ruhm von seinen kriegerischen Erfolgen abhängig gemacht.

Die Kernaussage dieser Zeilen ist, dass Krieg diesen Staat zusammengeschweißt hat und Kriege notwendig sein werden, den Ruhm des Staates zu mehren. Ist Krieg ein Wesenselement eines Staates, so ist das Leitbild für seine Männer der Soldat. Dass selbstverständlich die Schule ihre Schüler daraufhin erzogen hat, belegen die Anmerkungen in den Schulchroniken zum Sedantag. Vor allem Hermann Wegmanns Vorträge und Wilhelm Wolfs Turnmärsche sind hier aufschlussreich.

Der Sedantag zur Erinnerung an die Schlacht von Sedan und die Gefangennahme Kaiser Napoleons III. im Jahre 1870 sollte nach dem Wunsch vieler Deutscher der Nationalfeiertag des neuen Deutschen Reiches werden. Zwar wurde er das nie offiziell, aber vielerorts wurde in Kundgebungen, Umzügen und militärischen Paraden Deutschlands Größe und Macht gefeiert. Auch abendliche Festkommerse, Bälle und Feuerwerke gehörten zu diesem Tag. Für die Schulen gab es statt des Unterrichts einen Schulakt, Geländespiele als Kriegsspiele oder eben auch Turnmärsche. Kriegs- oder Geländespiele sind in den Hagener Schulchroniken nicht überliefert, wohl aber für vier Nachbarschulen am 16. Juni 1913, als das 25-jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. gefeiert wurde. Die Chronik der Volksschule Malbergen berichtet:

 „Die Oberklassen, Knaben der kath. Schulen von Hasbergen, Holzhausen, Georgsmarienhütte und Malbergen veranstalteten am Nachmittage unter Führung der Lehrer ein Kriegsspiel am Hüggel. Das Spiel wird den Knaben viel Freude und geistige Anregung gebracht haben.[14]

Wegmann forderte seine Schüler auf  – und er meinte natürlich die Jungen – ,„durch Übung der Leibeskräfte und nötigen Geschicklichkeit zu braven Söhnen des Vaterlands sich heranzubilden, die geschickt und bereit sind mit Gut und Blut einzutreten, wenn das Vaterland einmal sollte in Gefahr sein.“ (Hagen, 1891/92).  Immer wieder bezieht er sich auf das Beispiel der „Väter“, womit vor allem die Veteranen von 1870/71 gemeint waren, denen die Schüler nacheifern sollten.

Da zur Erziehung zum Soldaten vor allem Körperbildung gehörte, hatte die „Allgemeine Verfügung“ von 1872 zwei Stunden Turnen für die Jungen vorgesehen. (Die Mädchen erhielten gleichzeitig Handarbeitsunterricht.) Mangels Sporthallen – die erste Sporthalle in der Samtgemeinde Hagen und damit im Kreis Iburg wurde 1911 wurde errichtet – fand der Turnunterricht im Freien statt. Zwar sagen uns die Schulchroniken nichts über die Inhalte und den Ablauf des Sportunterrichts, aber der „Leitfaden für den Turnunterricht in den Preußischen Volksschulen“ von 1895, der einige Jahre verbindliche Grundlage war, vermittelt uns ein klares Bild. Schon in § 1 heißt es, dass die Schule im Turnunterricht neben der Entwicklung von Gesundheit, Kraft, Ausdauer und Gewandtheit „die Aneignung gewisser im Leben vielfach nutzbarer Fertigkeiten, besonders auch mit Rücksicht auf den künftigen Wehrdienst im vaterländischen Heere, sichern“ [15] soll. Und im Rahmen der Unterrichtsinhalte bildeten die sogenannten „Ordnungsübungen“ mit ihren vielen Reihenbildungs- und Marschierübungen einen wesentlichen vormilitärischen Themenkomplex. Hinzu kamen im „Leitfaden“ Hunderte von wörtlich zu befolgenden Befehlen im Kasernenhofton; so heißt das Kommando zur „Schwenkung der Viererreihe“ beispielsweise: „Viertelschwenkung rechts – marsch!“[16]

1910 wurde gar eine dritte Turnstunde vorgeschrieben, „besonders für die volkstümlichen Übungen, Bewegungsspiele, Turnmärsche und andere Leibesübungen im Freien (Eislauf, Rodeln u. drgl.) bestimmt […].“ (Gellenbeck 1910/11). In dem Zusammenhang sollen uns vor allem die „Turnmärsche interessieren, von denen wir vermuten können, dass es sie im Sportunterricht der Oberklasse in Gellenbeck gab, da sie Wilhelm Wolf wiederholt im Zusammenhang mit Gedenktagen erwähnt. So wurde am Sedantag 1912 „eine kleine Wanderung veranstaltet, an welcher die Schulfahnen sowie die Flötenspieler u. Trommler teilnahmen.“ (Gellenbeck 1912/13). Im Folgejahr gab es dann sowohl aus Anlass des Regierungsjubiläums Wilhelms II. und auch am Sedantag nach dem Schulakt einen „Turnmarsch“. Ein Marsch mit Trommeln, Flöten und Fahnen hatte schon einen recht militärischen Charakter.

Wilhelm Wolf mit seiner Oberklasse im Jahre 1910 vor der Gellenbecker Schule (Archiv der Grundschule Gellenbeck).

Turnmärsche gehen zurück auf das Konzept des „Zentralausschusses zur Förderung der Volks- und Jugendspiele" und seines Vorsitzenden Emil von Schenckendorff. Durch sie sollten Herz, Lunge und Muskulatur gestärkt, Widerstandsfähigkeit gegen widrige äußere Umstände (Wetter und Landschaft) gelernt und das Zurechtfinden und Schätzen von Entfernungen („Fern-Sehen“) in der Landschaft entwickelt werden. Das Gelände galt auch als vorzüglicher Ersatz für nicht vorhandene Sport- und Spielplätze. Zur Gestaltung gehörten auch Marschdisziplin, Trommlerkorps und Volkslieder.[17]

Die preußischen Tugenden

„Pflichtgefühl, Redlichkeit, Fleiß, sachlicher Ehrgeiz und das Bemühen, jede Aufgabe unter Anspannung aller seiner Kräfte zu lösen, werden gemeinhin als preußische Tugenden bezeichnet.“[18] Immer wieder notieren die Schulchroniken, dass am Gedenktag einer Herrscherpersönlichkeit vom Lehrer in seinem Vortrag ein „Lebens- und Tugendbild“ entworfen worden sei. Vor allem Wegmann lässt uns an seinen Gedanken wieder teilhaben. Seinen Schülern schärfte er an den Geburtstagen Kaiser Wilhelms II. immer wieder ein, dass dieser eine sehr strenge Erziehung genossen habe „gegenüber der lockeren Erziehung der Kinder mancher Eltern unserer Zeit“ (Hagen 1893/94) und so durch Folgsamkeit und eigenen eisernen Fleiß zu einem Vorbild geworden sei. Gerade zu Fleiß, Strebsamkeit und „sittlich gutem Betragen“ versuchte Wegmann mit dem Vorbild des jungen Wilhelm seine Schülerinnen und Schüler anzuspornen. Das Vorbildhafte Wilhelms II. sieht der selbst sehr fromme Hauptlehrer auch in der Religiosität des Kaisers, der „auf Gott vertraue und in dieser glaubensarmen Zeit gern und freudig seinen Glauben an Gott u. an Jesum Christum […] bekenne“. (Hagen 1901/02)

Zweierlei mag für uns heute erstaunlich klingen: einmal, dass Wegmann die Erziehung im Deutschland der Kaiserzeit als „locker“ und andererseits diese Zeit als „glaubensarm“ bezeichnete. Was würde wohl Wegmann über Erziehung und Religion 100 Jahre später sagen? Berichte aus der Kaiserzeit schildern uns die häusliche und schulische Erziehung als äußerst streng und das kirchliche Leben als sehr intensiv.[19]

Rüstung zur Verteidigung oder: Wer hat Schuld am Krieg?

Friedliebend, aber zum Krieg gerüstet – das war das Bild, das den Schülern im Vorfeld des Ersten Weltkrieges von Deutschland und seinem Kaiser vermittelt wurde. Durch die Schulchroniken hindurch zieht sich der Grundgedanke, dass Preußen/Deutschland und seine Könige und Kaiser nur zur Verteidigung in den Kampf ziehen. In diesem Sinne interpretierte Wegmann die Befreiungskriege in seinem Rückblick auf das 19. Jahrhundert: „[…] der gewaltige Korse [Napoleon I.] schwächte Österreich und warf Preußen nieder. Es kommen bessere Tage, Napoleons Macht wird gebrochen. Nach dem Kriege folgt ein lange andauernder Friede zum Segen des Volkes.“ Und er fuhr fort über den Deutsch-Französischen Krieg:

„Nachdem in den Jahren 1870 und 1871 der alte Erbfeind, Frankreich, der durch sein frevelhaftes Beginnen einen Krieg heraufbeschworen, in verschiedenen blutigen Schlachten niedergeworfen, wurde nach vielen ruhmreichen […] Siegen ein höchst ruhmreicher Friede geschlossen.“  (Hagen 1899/00). 

So wurde den Schülern suggeriert, dass Preußens Größe das Ergebnis aufgezwungener Kriege war, an denen immer die anderen, vor allem Frankreich, schuld waren. Aber das kannten die Schüler ja: Auf diesem Niveau bewegten sich auch ihre kleinen alltäglichen Streitigkeiten.

So wurde dann auch die Schuld am Ersten Weltkrieg natürlich den Feinden zugewiesen: Georg Klumpe[20], der sich bisher zu den patriotischen Gedenktagen kaum geäußert hatte, formulierte in seiner Chronik einen zweiseitigen Rechtfertigungstext, in dem die Kriegsschuld vor allen England zugewiesen wurde, das neidisch auf den gewachsenen Ruhm und die weltweite Bedeutung Deutschlands war. Und Franz Kramer[21] schrieb:

„Die ruchlose serbische Verschwörung, der der Freund unseres friedliebenden Kaisers Wilhelm II. zum Opfer fiel, gab endlich Grund zu einem Kriege […] Rußland, Frankreich und England benutzen die Schandtaten der Serben, um Österreich und Deutschland zum Kriege zu zwingen. Gott ist gerecht! Wir dürfen auf den Sieg hoffen.“ (Sudenfeld 1914/15).

Quellen

Gellenbeck: Chronik der katholischen Volksschule in Hagen-Niedermark, Archiv der Grundschule Gellenbeck, Hagen a. T .W. (Band 1 der zweibändigen Schulchronik über den Zeitraum 1894 bis 1919).

Hagen: Chronik der Schule zu Hagen, Archiv der Grundschule St. Martin, Hagen a. T. W. (Band 1 der dreibändigen Schulchronik, umfassend den Zeitraum von 1888 bis 1932).

Mentrup: Chronik der katholischen Volksschule zu Mentrup. Archiv der Grundschule St. Martin, Hagen a. T. W. (einbändige Chronik über den Zeitraum von 1902 bis 1972).

Natrup: Schulchronik für die Volksschule zu Natrup-Hagen, Archiv der Grundschule Gellenbeck, Hagen a. T. W. (Band 1 der anfangs nicht chronologisch, sondern thematisch angelegten Chronik).

Sudenfeld: Schulchronik der Schulgemeinde zu Sudenfeld, Archiv der Grundschule Gellenbeck, Hagen a.T.W. (Band 1 der dreibändigen Schulchronik für den Zeitraum 1884 bis 1916).

 

[1]  Stenglin, Felix Freiherr von: Aus den Tagen der Mobilmachung, in: Der Krieg 1914/19 in Wort und Bild, Erster Band, Berlin 1916, S. XIV.

[2] Siehe dazu zum Beispiel: Gestrich, Andreas: „Leicht trennt sich nur die Jugend vom Leben“ – Jugendliche im Ersten Weltkrieg, in: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918, hrsg. von Rolf Spilker und Bernd Ulrich (Ausstellungskatalog), Bramsche 1998, vor allem S. 36 ff.

[3] Rottmann, Rainer: Hagen am Teutoburger Wald. Ortschronik, Hagen a. T. W. 1997, S. 368.

[4] Bei Zitaten aus den verschiedenen Hagener Schulchroniken werden nur in Klammern Schulort und Seitenangabe oder Schuljahr hinzugefügt.

[5] Vgl.: Gesetze und Verordnungen über das Volksschulwesen, insbesondere im Regierungsbezirk Arnsberg, zusammengestellt von Johann Sahler. Schwelm 1888, in: http://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/hd/content/titleinfo/839768 (18.12.2012).

[6]  Im Hagener Pfarrarchiv sind u. a. erhalten Schreiben der Kgl. Regierung vom 22. August 1893 (HPA C-401-03) und 10. Juli 1906 (HPA C-401-02-01), in denen die Behandlung der jüngeren preußischen, bzw. „vaterländischen“ Geschichte eingeschärft wird.

[7]  Wittmütz, Volkmar: Die preußische Elementarschule im 19. Jahrhundert, in: Themenportal Europäische Geschichte (2007), S.31, URL: <http://www.europa.clioonline.de/2007/Article=263>. (16.11.2012).

[8] Schenckendorff, E. von und Lorenz, Hermann (Hrsg.): Wehrkraft durch Erziehung, Leipzig 1904, S. 2.

[9]  Zur Geschichte des Schulwesens in Hagen siehe: Brand, Johannes; Rottmann, Rainer und Witte, Helga: Geschichte der Schulen in der Hagener Obermark, Hagen a. T. W., 2011 und: Brand, Johannes; Rottmann, Rainer und Wulftange, Gregor: 200 Jahre öffentliche Schule in der Niedermark 1809-2009, Hagen a. T. W. 2009.

[10] Natrup-Hagen 1883, Hagen 1888 und Gellenbeck 1889; Sudenfeld (1884) und Mentrup (1902) jeweils mit der Schulgründung.

[11] Hermann Wegmann (1841-1937) leitete die Volksschule Hagen von 1867 bis 1907. Seine Eintragungen zu patriotischen Feiertagen sind besonders umfangreich. Zu seiner Person siehe Brand/Rottmann/Witte wie Anm. 9, S. 61-65. – Wilhelm Wolf (1871-1933) war Leiter der Schule in Gellenbeck von 1906-1933. Zu seiner Person siehe: Brand, Johannes: Antonius Tappehorn und Wilhelm Wolf – die „geistigen Väter“ des Kirchbaus in Gellenbeck, in: Heimatverein Hagen a. T. W. (Hrsg.): Hagener Geschichten, Hagen a. T. W., 2011, S. 202-209.

[12] Rottmann, wie Anm. 3, S. 363.

[13] http://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fenlied

[14] Zitiert nach Schönhoff, Doris (Hrsg): Menschen, Bilder und Geschichten. Alltägliches aus Hagen, Hasbergen und Georgsmarienhütte, o. O. 2003, S. 529.

[15] Leitfaden für den Turnunterricht in den Preußischen Volksschulen, Berlin 1895, S. 1.

[16] Leitfaden, wie Anm. 15, S. 24.

[17]  Grundlegend dazu: Lorenz, Hermann: Turnmarsch und Wehrkraft, in: Schenckendorff/Lorenz wie Anm. 8, S. 199-216.

[18]  Herbert Kremp am 05.02.2001 in: Die Welt; zitiert nach: http://www.welt.de/print-welt/article431886/Preussische-Tugenden.html (22.11.2012).

[19]  Als Beispiel seien die Jugenderinnerungen von Carl Worpenberg im Heimat-Jahrbuch Osnabrücker Land 2013, S. 139-149 genannt.

[20]  Georg Klumpe war von 1907 bis 1929 Schulleiter an der Volksschule Hagen.

[21]  Franz Kramer war von 1910 bis 1914 Erster Lehrer an der seit 1911 zweiklassigen Schule in Sudenfeld.

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