Kirmesfeier 1919 mit bösen Nachspiel

aus Nachrichten aktuell Hagen a.T.W 4/12 S. 20-21 und 5/12 S. 19-20

Kirmesfeier 1919 mit bösen Nachspiel

Johannes Brand

  1. 1. Ein anonymer Brief

Für zwei junge Hagener Lehrer hatte eine fröhliche Kirmesfeier im Jahre 1919 ein böses Nachspiel. Die Geschichte könnte man als unbedeutend ruhen lassen, wenn sie nicht ein schrilles Licht auf die damaligen dörflichen Verhältnisse in Hagen werfen würde, auch wenn schließlich der gesunde Menschenverstand den Sieg davontrug. Es geht um einen Fall von übler Beschuldigung, die für die beiden jungen Lehrer existenzbedrohend hätte sein können. Ein Betroffener sprach sogar von Verleumdung, die man gerichtlich verfolgen würde, ja, wenn die Verleumderin sich nicht in der Anonymität verkrochen hätte. Sie unterschrieb ihren Brief nur mit „eine Frau aus Hagen“.

Zur Situation sei vorangeschickt: In der der alten Schule, dem heutigen Rathaus, bewohnte der Lehrer H. Göbbels mit einem ebenfalls unverheirateten Kollegen eine Dienstwohnung. Göbbels war 1919 nur für kurze Zeit nach Hagen abgeordnet worden, um den in Kriegsgefangenschaft befindlichen Lehrer Gustav Müller zu vertreten. Mit der Rückkehr Müllers wurde Göbbels zum Schuljahresbeginn 1920 wieder versetzt. Sein Mitbewohner nun war offensichtlich mit einem anderen jungen Kollegen befreundet. Und gegen diese beiden richtet sich im Frühjahr 1920 ein Brief an die Regierung in Osnabrück. Der Anlass war die beschlossene Versetzung des Lehrers Göbbels, den unsere „Frau aus Hagen“ im Hinblick auf ihre Kinder für einen Glücksfall hielt: „[…] der Göbbels ist so mehr für sich […] Man hört nie das er sich mit Mädchen abgibt […] denn Göbbels hat Religion er geht des Morgens zu Kirche und seine Schulkinder die fleißig sind schenkt er kleine Gebetbücher das ist doch für einen jungen Mann ein gutes Zeichen.“ Durch ihre Anschuldigungen gegen die beiden anderen jungen Lehrer wollte sie nun erreichen, dass zumindest einer von beiden versetzt und Göbbels bleiben würde. Und dazu erhob sie heftige Vorwürfen moralischer Verdorbenheit der beiden jungen Kollegen. Sie griff dabei zurück auf angebliche Beobachtungen am Kirmessonntag 1919, die allerdings auch bereits ein halbes Jahr zurücklagen.

Versuchen wir einmal aus dem etwas wirren fünfseitigen anonymen Brief, der „an den Herrn Schulrat in Osnabrück“, d. h. die Schulabteilung der Regierung in Osnabrück, gerichtet war, die wesentlichen Vorwürfe gegen die beiden jungen Lehrer herauszufiltern und geordnet wiederzugeben:

  • Vorwurf 1 - das „Hurennnest“: Der Ehemann der „Frau aus Hagen“ will zusammen mit zwei weiteren Männern am Kirmesabend 1919 beobachtet haben – was sie gesehen haben und was ihre Phantasie hinzugetan hat, sei offen gelassen – , dass die beiden befreundeten jungen Lehrer mit Mädchen in den Betten gelegen und „herum gehurt“ hätten, der eine im Schlafzimmer des abwesenden Göbbels. Nicht ganz klar ist, ob gemeint ist, dass beide mit einem weiteren Mädchen am selben Abend „gehurt“ haben sollen oder an einem anderen Tag. Überhaupt waren für unsere „Frau aus Hagen“ in ihrer Empörung die Wörter  Huren/huren/Hurennest/Hurerei besonders bevorzugte Vokabeln, zu denen sie insgesamt achtmal griff. Es gab es dann noch weitere  fragwürdige  Zeugen, nämlich an der Wirtshaustheke: „Bei Dammermann in der Wirtschaft ist erzählt einmal wäre Göbbels abends nach Hause gekommen, da hätte er ein Mädchen bei [seinem Mitbewohner] getroffen; da wäre Göbbels ganz wütend geworden und hätte das Mädchen aus dem Haus geworfen [...] Das hat ein glaubhaftigen Mann zu meinen Mann gesagt […]“
  • Vorwurf 2 – Trunkenheit: Einige Kinder aus der Großen Heide sollen die beiden Lehrer „besoffen im Chauseegraben“ gesehen haben.
  • Vorwurf 3 – ein unsittlicher Knabe: Einer der Söhne des Schulleiters in der Nachbarwohnung soll die Abwesenheit Göbbels ebenfalls genutzt haben, um mit seiner Freundin in dessen Wohnung zu gehen; zu welchem Zweck, das wird vielsagend offen gelassen. Und sein ältester Bruder sei auch nicht viel besser.
  • Vorwurf 4 – Misshandlung von Schülern: Und da man schon gerade so schön in Rage ist, bekommt der Vater ebenfalls sein Fett weg: Er sei „ein echter Grobian, der schlägt die Schulkinder mit den Schlüsselbund auf dem Kopf und wirft ihr Kreidestücke ins Gesicht, der sollte seine eigenen Kinder Sittlichkeit beibringen und die Tür nach Göbbels Wohnung zunageln, daß die Hurerei ein Ende hätte.“

Das angebliche „Hurennest“, die alte Schule (Foto: Archiv der Grundschule St. Martin)

Und schließlich hängte unsere anonyme Briefschreiberin noch eine massive Drohung an: „Sollte dieser Brief nichts nützen dann lasse ich mir von einen Rechtsanwalt in Osnabrück ein Schreiben aufsetzen und schicke das nach Berlin.“ Sie beabsichtigte also, dann das preußische Kultusministerium einzuschalten. Und abschließend erklärt sie, warum sie anonym bleiben will: „Meinen Namen wollte ich wohl unterschreiben, aber ich habe  in mehreren Klassen Kinder, die sollen in der Schule nicht darunter leiden.“

Uns mag ein solcher Brief heute eher belustigend anmuten, aber bedenken wir die dörflichen Moralvorstellungen um 1920, die geprägt waren von religiös bestimmter Sexualfeindlichkeit. Wenn die vorgesetzten Dienststellen den Brief trotz der Anonymität eine dienstaufsichtliche Untersuchung einleiteten, dann konnten die Vorwürfe für unsere beiden jungen Lehrer existenzgefährdend werden.

  1. 2. Die amtliche Untersuchung

Werfen wir zunächst einen Blick auf die damalige Struktur der Schulaufsicht. Für den Regierungsbezirk Osnabrück war zuständig die Regierung in Osnabrück, die soeben mit der Novemberrevolution von 1918 ihr Attribut „Königliche“ verloren hatte. Zugleich wurde den Geistlichen, die mit der Schulaufsicht eines Kreises, bzw. ihres Ortes beauftragt waren, ihr Amt genommen. Zunächst wurden Orts- und Kreisschulinspektion zusammengelegt und für kurze Zeit geeigneten Schulleitern übertragen, bevor dann für die Kreise eigne beamtete Schulräte benannt wurden. In dieser Zwischenphase 1919/20 war im Kreis Iburg der Gellenbecker Schulleiter Rektor Wilhelm Wolf als Kreisschulinspektor beauftragt.  An ihn wurde nun die Angelegenheit am 10. April 1920 von der Regierung zur Untersuchung übergeben. In den folgenden zwei Wochen hat er die beiden jungen Lehrer, aber nicht die beteiligten jungen Damen und schon gar nicht die unbekannt gebliebenen angeblichen Zeugen, zur Sache gehört und fasste seine Ergebnisse in einem umfangreichen Bericht an die Regierung am 26. April zusammen. In seinem Bericht über seine Untersuchung folgt er weitgehend den Darstellungen der beiden beschuldigten Lehrer, legt die Interessen der Briefschreiberin bezüglich des Verbleibens von Göbbels bloß und übt indirekt Kritik an der behördlichen Anordnung, auf einen anonymen Brief reagieren zu sollen, indem er einen der Beschuldigten sagen lässt, „daß diese Anschuldigungen pure Verleumdung seien, und daß es sehr zu bedauern sei, daß die Regierung auf ein anonymes Schreiben eingehe u. sie nicht die Verleumder gerichtlich belangen könnten“.Wilhelm Wolf (Foto: MGV Cäcilia Gellenbeck)

 Zu Vorwurf 1 – „Hurerei“: Die beiden  erklärtem dem Kreisschulinspektor, dass sie am Kirmesabend 1919 zusammen mit einem dritten Kollegen aus einem Nachbarort und drei Mädchen in die Wohnung in der Schule gegangen seien und „dort eine zeitlang geplaudert hätten“. Der Kollege Göbbels sei nicht zu Hause gewesen. Eines der Mädchen habe sich dann in Göbbels Schlafzimmer, das in Verbindung mit der Wohnstube stand, frisieren wollen, wobei einer der Männer sie begleitet habe. „Dort hat er sich nach seiner Aussage auf Göbbels Bett gesetzt und hat wiederholt das elektrische Licht, dessen Schalter über dem Bett angebracht, ausgeschaltet. Ungebührliches sei durchaus nicht vorgekommen, hätte ja auch nicht vorkommen können wegen der Anwesenheit der übrigen 4 Personen.“

  • Zu Vorwurf 2 – Trunkenheit: Hier erzählten die beiden lebenslustigen jungen Männer ihrem Vorgesetzten von einen Kneipentour: Sie „bestreiten, daß sie jemals betrunken von Kindern angetroffen bezw. im Graben gefunden seien. Sie gaben zu, daß sie eines Tages mit dem Landwirt Otte nach Natrup-Hagen gefahren seien, dabei haben sie unterwegs die verschiedenen Wirtschaften besucht, sind angetrunken gewesen und später habe Landwirt Otte sie mit seinem Gespann wieder nach Hagen gebracht.“  Und Wolf fügt hinzu: „Ich kenne Landwirt Otte persönlich und gebe zu, daß es so gewesen sein kann.“
  • Zu Vorwurf 3 und 4: Hier glaubt Wolf den Beteuerungen der Söhne, dass an den Vorwürfen nichts dran sei und begründet seine Haltung so: „Dazu möchte ich bemerken, daß ich [die]Familie […] seit 13 Jahren kenne, weil ich dort verkehre und den Söhnen sittliche Entgleisungen nicht zutraue.“ Und damit hatte sich natürlich auch der Vorwurf wegen der angeblich zu groben Erziehungsmethoden des Kollegen erledigt.

Nun könnte man annehmen, Wolf habe ein wenig allzu naiv den Beteuerungen und Erzählungen seiner Hagener Kollegen geglaubt, zumal er den nicht mehr in Hagen weilenden Kollegen Göbbels und die jungen Damen gar nicht befragt hat. Aber da kommt noch eine ganz wichtige örtliche Autorität ins Spiel, Pastor Brümmer. Schon die anonyme Briefschreiberin hatte auf dessen Autorität hingewiesen mit ihrem Bemerken: „Wenn der Herr Pastor noch in der Schule was zu sagen hätte, dann wäre das anders.“  Aus Wolfs Bericht können wir schließen, dass auch Pastor Brümmer ein solches anonymes Schreiben bekommen hatte:

Pastor Gerhard Brümmer (Foto: Pfarrarchiv St. Martinus)

„Herr Pastor Brümmer, dem auch Anzeige erstattet war, hat die beiden Lehrer s.Zt. auch gleich zu sich berufen u. ihnen Vorhaltungen gemacht. Er ist der              

Ansicht, daß die beiden Lehrer nicht ganz einwandfrei gehandelt hätten, die Anschuldigungen doch wohl übertrieben seien.“ Und er trat auch gegenüber dem Kreisschulinspektor als Fürsprecher mit lobenden Worten auf: „Herr Pastor Brümmer erklärt mir, daß er über die beiden Lehrer […] sonst nie etwas Nachteiliges gehört habe u. stets mit ihnen zufrieden gewesen sei. Hauptlehrer Klumpe gibt an, daß [die beiden] […] jeden Morgen mit soldatischer Pünktlichkeit ihre Kinder zur Schulmesse begleiten.“ Das war natürlich eine heftige Replik auf die Bemerkung im anonymen Brief, dass Kollege Göbbels besonders fromm sei. Und Wolf, der seine Ermittlungen gleich mit einem Unterrichtsbesuch bei den beiden jungen Lehrern verknüpfte, fügte hinzu: „Am 23.4. 20 habe ich die Klassen […]  revidiert, die Arbeit der beiden Lehrer hat mich zufrieden gestellt.“  

Die sehr durchsichtige Absicht der Briefschreiberin hat er natürlich erkannt: „Nach meiner Auffassung ist, wie auch der Brief erkennen läßt, die Angelegenheit der Regierung unterbreitet worden zu dem Zwecke, Lehrer Göbbels in Hagen zu behalten. Sollte dies aber ermöglicht werden, dann müßte einer der beiden Lehrer versetzt werden.“  Sicher war er auch darüber empört, dass zu einem so durchsichtigen Zweck so heftige verleumderische Vorwürfe konstruiert wurden, denn ganz im Gegensatz zur Behauptung der Briefschreiberin war die Angelegenheit wohl überhaupt kein Thema im Dorfklatsch: „Erwähnen möchte ich noch, daß ich von der ganzen Sache, die nach Angabe der Briefschreiberin so großes Ärgernis in Hagen erregt, bislang kein Wort vernommen habe, obgleich ich zur Samtgemeinde Hagen gehöre. Da die Kirmes schon ein halbes Jahr zurückdatiert, wäre es wohl Pflicht der Schreiberin, die Anschuldigungen schon früher vorzubringen und ihren Namen zu nennen.“

Schulrat Linnartz von der Regierung in Osnabrück schloss dann den Vorgang auch am 1. Mai ab, indem er dem Hagener Hauptlehrer Klumpe beauftragte, die beiden jungen Lehrer „[…] auf das Unangebrachte ihres Handels aufmerksam zu machen.“  Wie schon bei Pastor Brümmer war das kein Vorwurf unsittlichen, sondern nur noch unklugen Verhaltens.

Eine unbedeutende Geschichte? Immerhin hat sie durch die Aufnahme der Schriftsatzes in die Akte Rep 430 Dez 400 Nr. 2063 im Staatsarchiv in Osnabrück quasi Ewigkeitswert bekommen. Deswegen wurde sie hier erzählt.

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